Als Product Owner die richtigen Fragen stellen

Als Product Owner die richtigen Fragen stellen

Wusstet Ihr, dass Kinder an die 500 Fragen pro Tag stellen?[1] Und dass sie – wenn sie mit dem Sprechen anfangen – zuerst nach dem „Was“ und „Wo“ und mit ungefähr drei Jahren auch nach dem „Warum“ fragen?[2] Deshalb behaupte ich in meinen Trainings manchmal scherzhaft, dass kleine Kinder vermutlich die besten Product Owner oder Requirements Engineers wären. 😉

Denn wenn es darum geht, die Bedürfnisse der Stakeholder an ein Produkt herauszufinden, sind Fragen ein wichtiges Arbeitsinstrument für Product Owner, Business Analysten, Requirements Engineers und überhaupt alle, die sich mit der Analyse von Anforderungen beschäftigen. Aber wie schaffe ich es, meinen Stakeholdern wirklich die richtigen Fragen zu stellen?

Die innere Haltung entscheidet

„Ist das die richtige Frage?“ – damit beschäftigen sich Kinder gar nicht. Sie fragen einfach nach allem, was sie wissen wollen. Ich glaube, da können wir uns als Product Owner oder Requirements Engineers wirklich was abgucken. Denn wir können noch so schlaue Fragen stellen, wenn die Grundvoraussetzung für ein gutes Gespräch nicht gegeben ist: Ein ehrliches Interesse am Gegenüber und an dem, was er oder sie zu erzählen hat.

Hilfreich finde ich es, mich selbst als Interviewer in erster Linie als Lernende zu sehen und nicht zu versuchen, die Stakeholder mit meinem Fachwissen zu beeindrucken. „Ich bin hier, um zu lernen“, ist mein kleines Mantra, das ich mir manchmal im Geiste vorsage, wenn ich mich wieder dabei erwische, in die „Expertenfalle“ zu tappen.

Zu wissen und auch zu zeigen, dass man etwas nicht weißt, ist nicht immer leicht. „Sie sind doch hier die Experten!“ empörte sich vor ein paar Jahren ein Kunde, den ein Kollege und ich im Rahmen eines E-Commerce-Projektes interviewt hatten. Mein Kollege hat damals sehr souverän reagiert und dem Kunden ruhig und freundlich erklärt, dass wir zwar die Experten für E-Commerce-Software sind, jedoch nicht für seine Branche und Produkte. Daher wäre es für uns enorm wichtig, diese Themen mit ihm zu besprechen. Der Kunde hatte daraufhin glücklicherweise mehr Verständnis für unsere – für ihn möglicherweise teilweise recht sonderbar anmutenden – Fragen und wir konnten ein konstruktives und informatives Interview führen.

Als Interviewerin muss ich mir außerdem bewusst sein, welche eigenen Annahmen ich mit in das Gespräch bringe. Diese sollte ich explizit machen, um zu überprüfen, ob diese auch der Weltsicht des Stakeholders entsprechen. Wir sind alle geprägt von Systemen, Websites und Apps, die wir gerne nutzen. Wenn ein System neu entwickelt wird, nutzen wir diese Erfahrungen häufig als Referenz, ohne entsprechende Punkte näher zu diskutieren. Blöd nur, wenn man am Ende merkt, dass der Kunde beispielsweise von einem an iOS angelehnten Bedienkonzept ausgegangen ist, während ich mich weitestgehend in der Android-Welt tummle.

Vorbild Sesamstraße

Offenheit und Klarheit über meine eigenen Annahmen sind für mich als Interviewerin also schon mal die halbe Miete. Bei der zweiten Hälfte hilft mir ein Ausflug zurück in meine Kindheit. Nein, damit meine ich nicht, die Stakeholder mit circa 500 „Warum“-Fragen am Tag zu terrorisieren!  Sondern ich meine die Sesamstraße! 😀

„Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum“ – wer kennt sie nicht, die Sesamstraßen-Titelmelodie. Und damit hat man eigentlich auch schon die wichtigsten Fragen für die Anforderungsanalyse zusammen[3]. Der Vorteil von diesen W-Fragen ist, dass es sich bei ihnen um offene Fragen handelt. Diese sind bestens geeignet, um den Gesprächspartner ins Erzählen kommen zu lassen und so möglichst viele Informationen abzugreifen. Anders als bei der Sesamstraße, sollte am Anfang der Fokus allerdings noch nicht so sehr auf dem „Wie“ liegen, sondern eher auf dem „Warum“ bzw. dem „Wozu“.  Andernfalls besteht die Gefahr, dass man sich frühzeitig in unwichtigen Details oder technischen Lösungsdiskussionen verliert.

Psychotherapie für Antworten

Falls Euer Frage-Ehrgeiz jetzt geweckt ist, lohnt sich außerdem ein Ausflug in die Welt der Psychotherapie. Therapeuten nutzen in ihren Gesprächen Fragetechniken der natürlichsprachlichen Analyse, um in den Antworten der Klienten verborgene Informationen ans Licht zu heben. Man spricht in diesem Zusammenhang von sprachlichen Effekten wie Tilgungen, Generalisierungen und Verzerrungen, die in Gesprächen häufig zu Missverständnissen führen.

In der folgenden Tabelle stelle ich euch einige dieser Effekte vor:

SprachmusterBeispielWie hinterfragen
Passivkonstruktionen„Die Meldung wird verworfen“.„Wer oder welches System macht das? Was verstehen Sie unter verworfen?“
Nominalisierungen„Der Kunde schließt seine Anmeldung ab“.„Wer genau ist der Kunde? Was ist mit Anmeldung gemeint?“
Nicht qualifizierte Adjektive oder Adverbien„Das System muss einfach zu bedienen sein“.„Was verstehen Sie unter einfach? Haben Sie ein Beispiel für mich?“
Unspezifische Verben„Der Kunde erfasst die Daten.“„Wie und wann erfasst der Kunde die Daten?“ (und siehe oben: Nominalisierungen)
Universalquantoren„Das System muss alle Datensätze exportieren“.„Wirklich alle Datensätze? Gibt es Ausnahmen?“

Es braucht etwas Übung, aber wenn ihr mit der Zeit feine Antennen für diese Sprachmuster entwickelt habt, hilft euch das dabei, möglichst wenig zu übersehen. Falls ihr Lust und Zeit habt, sucht euch zum Üben doch einfach mal eine beliebige Nachrichtensendung oder eine Talkshow raus und schaut, welche sprachlichen Effekte ihr dort entdeckt!

Jokerfrage zum Schluss

Am Ende eines Interviews benutze ich dann gerne eine Fragetechnik, die ich in meiner Coachingausbildung Coach gelernt habe: Die sogenannte Jokerfrage.

Ich frage meinen Gesprächspartner dann, ob es noch irgendeine Frage gibt, die ich vergessen habe zu stellen. So nehme ich mein Gegenüber mit in die Pflicht, für sich noch einmal das Gespräch zu reflektieren und die Vollständigkeit der ausgetauschten Informationen zu überprüfen. Manchmal kommen hierdurch tatsächlich noch wichtige Punkte ans Tageslicht.

Fazit

Gute Stakeholder-Interviews zu führen ist gar nicht so schwer. Wenn die innere Haltung stimmt und ein gutes Gesprächsklima vorherrscht, braucht es nur noch ein wenig Handwerkzeug und Übung.

Letztendlich solltet ihr es allerdings entspannt angehen. Denn falls ihr aus irgendeinem Grund doch nicht die „richtigen“ Fragen gestellt haben solltet, ist das auch nicht so dramatisch. Erstens könnt ihr die Stakeholder später immer noch mal kontaktieren, sollten euch nach dem Interview noch weitere Fragen einfallen (Besorgt euch während des Interviews schon das Einverständnis des Stakeholders hierzu und seine Kontaktdaten!).

Und zweitens merkt ihr in einem agilen Vorhaben letztendlich bei der Auslieferung des ersten Softwareinkrements an dem Feedback des Stakeholders, ob ihr seine oder ihre Bedürfnisse gut genug verstanden habt. Und könnt so mit jedem Inkrement immer bessere Fragen stellen und bessere Antworten erhalten.


[1] https://www.schweizer-illustrierte.ch/family/alltag/wann-ihr-kinderfragen-besser-nicht-beantwortet

[2] https://www.spiegel.de/familie/warum-kinder-warum-fragen-brauchen-und-wie-eltern-damit-umgehen-sollten-a-992c6e63-6a2d-42c5-8aef-8bb61c62a0f2

[3] Das „Wann“ und „Wozu“ fehlen hier natürlich noch. Auch das sind wichtige Fragen für Stakeholder-Interviews.

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